Montag, 6. Februar 2012

Wikipedia Teil II: Grundprinzipien von Wikipedia

Im Rahmen eines Projekts beschäftigen wir uns seit einigen Wochen intensiver mit der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Noch immer lehnen viele Lehrende an Schulen und Hochschulen Wikipedia ab - ein Umstand, der wohl nur mit mangelndem Verständnis hinsichtlich der Enzyklopädie (sowie des Web 2.0 im allgemeinen) erklärt werden kann. Wir haben uns deshalb entschlossen, in einer Reihe von Postings Wikipedia und dessen Nutzung zu erläutern. Alle Postings zusammen werden dann als neues Unterkapitel im Abschnitt Lernen 2.0 des Online-Lehrbuchs zum Web 2.0 veröffentlicht.

Bisher erschienen: Wikipedia Teil I: Wie ist Wikipedia entstanden?

Grundprinzipien von Wikipedia

(Autorin: Sarah Brenner)

Die Philosophie der Enzyklopädie, das Grundgerüst von Wikipedia ist kurz erklärt: “Jeder Nutzer kann ihre Artikel lesen; und jeder Nutzer kann die Artikel, die er liest, zugleich bearbeiten oder auch neue Artikel anlegen” (Münker 2009, 95). So soll in einem offenen Prozess kollaboratives Wissen entstehen, ohne traditionell-hierarchische Strukturelemente. Dieses Grundgerüst steht aber durchaus auf einem strukturierten Fundament.

Es zeigt sich, dass gerade die Offenheit eine komplexe Organisation benötigt - Regeln und Konventionen eingeschlossen. Um größtmögliche Qualität der Inhalte zu liefern, hat Wikipedia-Gründer Jimmy Wales zu Beginn des Projekts vier Grundprinzipien für offiziell erklärt - als ein Minimum an Reglementierung und Strukturierung (vgl. Wikipedia: Grundprinzipien 2012).

1. Wikipedia ist eine Enzyklopädie
2. Neutral Point of View
3. Freie Inhalte
4. Wikiquette

“Wikipedia ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie und kann deshalb bestimmte andere Dinge nicht sein.” Dieses Statement bildet das wichtigste Grundprinzip von Jimmy Wales. Dabei definiert sich Wikipedia selbst als Enzyklopädie. Medienhistorisch ist die Enzyklopädie als Gattung festgelegt und deren Grundsätze sind allgemein bekannt (vgl. Pscheida 2010, 368). Mit dieser Charakteristik gehen bestimmte Merkmale einher, gleichzeitig werden Erwartungen ausgeschlossen, die sich nicht mit dem Konzept einer Enzyklopädie vereinbaren lassen. Wikipedia selbst führt hierzu aus:

Was Wikipedia nicht ist
1. “Wikipedia ist kein Wörterbuch (im Sinne von Sprachwörterbuch). In Artikeln sollen in erster Linie Begriffe erläutert und keine gängigen deutschen Wörter erklärt werden, wie dies ein Wörterbuch macht. Fremdwörter, Redensarten und besondere deutsche Wörter können allerdings behandelt werden, wie auch in gedruckten Enzyklopädien üblich. Ein reines Wörterbuchprojekt ist das Schwesterprojekt Wiktionary.

2. Wikipedia dient nicht der Theoriefindung, sondern der Theoriedarstellung. In Artikeln sollen weder neue Theorien, Modelle, Konzepte oder Methoden aufgestellt, noch neue Begriffe etabliert werden. Ebenso unerwünscht sind nicht nachprüfbare Aussagen. [...]

3. Wikipedia ist keine Werbe- oder Propagandaplattform und keine Gerüchteküche. [...]

4. Wikipedia ist kein Ort für Essays und kein Ort für Fan-Seiten. Artikel sollen sachlich, objektiv und in enzyklopädischem Stil geschrieben sein. [...]

5. Wikipedia ist kein allgemeines Diskussionsforum und kein Chat-Raum. Artikeldiskussionsseiten dienen der Verbesserung von Artikeln, nicht dem Austausch persönlicher Betrachtungen zum Artikelthema.

6. Wikipedia ist kein Webspace-Provider und kein Ersatz für die eigene Website. [...]

7. Wikipedia ist keine Rohdatensammlung großer Mengen strukturierter Daten wie Telefonbücher, Bibliografien, Linkverzeichnisse, Adressverzeichnisse und so weiter. [...]

8. Wikipedia ist kein Nachrichtenportal oder Veranstaltungskalender und dient nicht der aktuellen Berichterstattung. Einen Rahmen für Nachrichten und aktuelle Berichterstattung bietet das Schwesterprojekt Wikinews. [...]

9. Wikipedia ist keine Sammlung von Anleitungen und Ratgebern. [...]”

[aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Was_Wikipedia_nicht_ist, letzter Zugriff: 07.01.2012]

Aus dem ersten Grundprinzip direkt abgeleitet ist das zweite Grundprinzip der Wikipedia: die Neutralität der Artikel bzw. die Forderung nach einem neutralen Standpunkt (“neutral point of view”, oder kurz “NPOV”). Dieses Grundprinzip steht für einen Inhalt, der nicht von politischen, religiösen oder anderweitigen Interessen geprägt ist. Möglichst wertneutral und frei von persönlichen Meinungen oder Präferenzen sollen Sachverhalte objektiv dargestellt werden (vgl. Van Dijk 2010, 53).

Für Jimmy Wales ist ein Artikel dann neutral, wenn die Community ihn als neutral anerkennt. Dies sei der Fall, wenn keine Veränderungen mehr an Inhalten vorgenommen werden und mögliche Diskussionsaspekte bezüglich der Verletzung dieses Grundprinzips aus dem Weg geschafft wurden. Damit folgt Wikipedia einer funktionellen Definition von Neutralität: Nicht die Expertise entscheidet darüber, ob der “NPOV” eingehalten wurde, sondern die soziale Interaktion zwischen den Wikipedianern.

Die bisherige Erfahrung zeigt, dass diese Vorgehensweise ordentlich funktioniert (vgl. Weinberger 2007, 164). Ist der Diskussionsprozess noch nicht abgeschlossen, weist Wikipedia mit Hinweisen auf die (möglicherweise) fehlende Objektivität hin: “Die Neutralität dieses Artikels ist umstritten. Die Gründe stehen auf der Diskussionsseite” (ebd., 168).

Das dritte Grundprinzip bezieht sich auf die freien Inhalte der Wikipedia. “Freie Inhalte” bedeutet, dass Artikel der Wikipedia uneingeschränkt, vor allem kostenlos genutzt und weiterverbreitet werden dürfen (Open-Source-Prinzip) (vgl. Pscheida 2010, 368). Ausführlich wird dieser Aspekt bei Van Dijk (2010, 20ff.) aufgegriffen. Aus diesem Grund ist es auch zwingend erforderlich, dass Plagiate unverzüglich gelöscht werden, da Urheberrechtsverletzungen die “rechtliche und moralische Integrität des Artikels” verletzen und dem Prinzip der freien Inhalte schaden (vgl. ebd., 55).

Des Weiteren gibt es eine Interaktionskultur innerhalb der Wikipedia, die “Wikiquette” genannt wird und das vierte Grundprinzip darstellt. Dabei handelt es sich um grundlegende Konventionen und Regeln, die einen vernünftigen und konstruktiven Umgang miteinander bei der gemeinsamen Arbeit an Artikeln ermöglichen sollen. Angestrebt wird, dass auch im Fall von Uneinigkeit oder Streit während des Entstehungsprozesses eines Artikels die Grundlagen des höflichen Umgangs nicht verletzt werden (vgl. Pscheida 2010, 368).

Die Wikiquette umfasst zehn zentrale Grundsätze des Umgangs miteinander. Für einige haben sich Akronyme herausgebildet, die von den Wikipedianern benutzt, aber auch kreiert wurden. Darunter fällt “KPA” (“Keine persönlichen Angriffe”), oder “AGF” (“Assume Good Faith” → “Geh von guten Absichten aus”) (vgl. Van Dijk 2010, 37).

Die Wichtigkeit der Einhaltung dieser Grundsätze spiegelt die Tatsache wider, dass User bei Verletzungen gesperrt werden können, denn man sollte nie vergessen, “dass auf der anderen Seite des Bildschirms auch nur ein Mensch sitzt” (ebd.).

Zentrale Grundsätze des Umgangs miteinander in der Wikipedia: die Wikiquette
Keine persönlichen Angriffe.
Geh von guten Absichten aus.
Sei freundlich.
Hilf anderen.
Bleibe ruhig!
Die Mitarbeit in der Wikipedia beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit.
Besser spricht es sich von Angesicht zu Angesicht.
Lass anderen Benutzern ihre Anonymität.
Trage Konflikte nicht öffentlich aus.
Sei nicht nachtragend.

Mehr dazu hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikiquette

Die Besonderheit liegt in der Unveränderlichkeit der vier Grundprinzipien. Demgegenüber haben sich im Lauf der Zeit durch das alltägliche Handeln miteinander noch zahlreiche andere Regeln entwickelt. Dabei handelt es sich um Konventionen, die für den Moment gelten, aber nicht endgültig festgelegt sind. Sie entwickeln sich stetig weiter (vgl. Pscheida 2010, 367f.). Diese weiteren Regeln stellen aber im Gegensatz zu den unumstößlichen vier Grundprinzipien keine einheitliche oder festgesetzte “Satzung” dar. Damit sind auch die Konventionen von Offenheit und Transparenz geprägt. Sie entstehen aus kollaborativen Prozessen (vgl. Van Dijk 2010, 28).

Doch gerade diese Offenheit dient oft als Ansatzpunkt für Kritik, da sie die Qualität der Wikipedia gefährden kann (z.B. Vandalismus). Doch Tapscott und Williams betonen, dass das Prinzip der Offenheit und der Transparenz Wikipedia letztendlich zum Erfolg verholfen habe und die Ursache dafür sei, dass das Projekt weiter wächst, eben auch qualitativ. Neben neuen Einträgen werden bestehende Artikel aktualisiert und auf Richtigkeit hin überprüft (vgl. Tapscott/Williams 2009, 75). Wales selbst nennt diesen Prozess der wiederholten Veränderung und Korrektur eine “darwinistische Evolution”, welche die Qualität eines Artikels stetig verbessert. Diesem “dynamischen, sich entwickelnden Bestand an Wissen” wird immer mehr Anerkennung entgegengebracht - auch in der akademischen Welt (ebd., 73f.).

Wikipedia steht wie kein anderes Projekt für die faszinierenden Möglichkeiten des Web 2.0. Im Sinne von express - connect - share ist Wikipedia ein beispielloses Konzept zur Verwirklichung eines Gemeinschaftsprojekts über nationale Grenzen hinweg - peer production in Reinkultur. Richardson bezeichnet die Online-Enzyklopädie als das “Ziehkind einer kollektiven Konstruktion von Wissen und Wahrheit” (Richardson 2011, 97), die durch die Transformation vom Read-Web zum Read-/Write-Web ermöglicht wurde. Auch Münker stützt diese These: “Wikipedia symbolisiert das Web 2.0 und die anziehende Qualität seines partizipatorische Prinzips wie kaum ein anderes Projekt” (Münker 2009, 97). “Der amerikanische Soziologe und Journalist James Surowiecki hat das Prinzip der kollektiven Intelligenz auf die Formel ‘Weisheit der vielen`gebracht. [...] Wobei die Weisheit der vielen im Web 2.0 über das Wissen der Eliten triumphiert” (ebd., 99f.).

Fortsetzung: Wikipedia Teil III: Weitere Regeln in der Welt der "freien Enzyklopädie"

Literatur:

Clay Shirky (2008), Here Comes Everybody. The Power of Organizing Without Organizations, Penguin, S. 109-142: “Personal Motivation Meets Collaborative Production”.

David Weinberger (2008), Das Ende der Schublade. Die Macht der neuen digitalen Unordnung, Hanser, S. 160-176: „Anonyme Verfasser“.

Stefan Münker (2009), Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0, Suhrkamp, S. 95-102: „Kollektives Wissen und der Erfolg von Wikipedia“.

Don Tapscott/Anthony D. Williams (2007), Wikinomics. Die Revolution im Netz, Hanser, S. 71-76: „Die Enzyklopädie, an der jeder mitschreiben kann“.

Will Richardson (2011), Wikis, Blogs und Podcasts. Neue und nützliche Werzeuge für den Unterricht, Tibia Press, S. 95-116: „Wikis. Gemeinschaftsarbeit leicht gemacht“.

Anja Ebersbach/Markus Glaser/Richard Heigl (20112), Social Web, UVK, S. 39-60: „Wikis“.

Daniela Pscheida (2010), Das Wikipedia-Universum. Wie das Internet unsere Wissenskultur verändert, Transcript Verlag.

Ziko Van Dijk (2010), Wikipedia. Wie Sie zur freien Enzyklopädie beitragen, Open Source Press.

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