Donnerstag, 9. Februar 2012

Wikipedia Teil III: Weitere Regeln in der Welt der “freien Enzyklopädie”

Im Rahmen eines Projekts beschäftigen wir uns seit einigen Wochen intensiver mit der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Noch immer lehnen viele Lehrende an Schulen und Hochschulen Wikipedia ab - ein Umstand, der wohl nur mit mangelndem Verständnis hinsichtlich der Enzyklopädie (sowie des Web 2.0 im allgemeinen) erklärt werden kann. Wir haben uns deshalb entschlossen, in einer Reihe von Postings Wikipedia und dessen Nutzung zu erläutern. Alle Postings zusammen werden dann als neues Unterkapitel im Abschnitt Lernen 2.0 des Online-Lehrbuchs zum Web 2.0 veröffentlicht.

Bisher erschienen:
Wikipedia Teil I: Wie ist Wikipedia entstanden?
Wikipedia Teil II: Grundprinzipien der Wikipedia

Weitere Regeln in der Welt der "freien Enzyklopädie"

(Autorin: Sarah Brenner)


Relevanz

Das erste und wichtigste Grundprinzip, dass die Wikipedia eine Enzyklopädie ist, inkludiert bestimmte Eigenschaften, exkludiert aber gleichzeitig auch Erwartungen; es lässt sich daraus aber noch mehr über das Wesen der Wikipedia ableiten. Ein bedeutender Qualitätsaspekt steckt nämlich hinter der Frage, ob ein Artikel relevant ist. Ist ein Thema bedeutsam genug, um einen Artikel in einer Enzyklopädie zu bekommen (vgl. Van Dijk 2010, 51f.)? Und wer entscheidet darüber, ob ein Thema relevant ist?

Zur Klärung dieser Frage hat die Wikipedia “Relevanzkriterien” aufgestellt, die als Ergänzung zu den bereits angeführten Ausführungen zum Thema “Was Wikipedia nicht ist” zu verstehen sind. Auch dieser Katalog ist das Ergebnis eines mehrjährigen Diskussionsprozesses und dient der Orientierung in diesem schwierigen und umstrittenen Terrain (vgl. Wikipedia: Relevanzkriterien 2012). Als allgemeine “Formel” gibt die Wikipedia vor: “Die Entscheidung für oder gegen die Aufnahme in eine Enzyklopädie richtet sich auch nach der Frage, ob Personen, Ereignisse oder Themen mit aktuell breiter Öffentlichkeitswirkung nach sinnvollem Ermessen auch Zeit überdauernd von Bedeutung sein werden” (ebd.).

Die Ursache für die Entstehung des Katalogs an Relevanzkriterien liegt zum einen in dem Qualitätsanspruch der enzyklopädischen Artikel begründet, aber auch in der Tatsache, dass die Relevanzfrage “erhebliches Konfliktpotential” mit sich bringt (Van Dijk 2010, 52). So kommt es immer wieder zu Diskussionen, wann und ob beispielsweise eine “Hinterhofband”, sogenannte “Stars” oder eine Bibliothek tatsächlich mit einem eigenen Artikel vertreten sein sollen.

An dieser Stelle sei nochmals auf Jimmy Wales Ziel hingewiesen, eine “Enzyklopädie von Weltklasse” (Weinberger 2008, 166) zu erbauen, nicht aber eine “Info-Müllhalde” oder eine mit “Bandspam” besetzte Website. Genausowenig soll sie als “billige Werbeplattform missbraucht” werden (Van Dijk 2010, 52). Wird keine Relevanz ausgemacht, kommt es zum Löschantrag (vgl. ebd.). Die Relevanzkriterien sind mittlerweile auf eine immense Größe angewachsen. Zur Vertiefung können sie hier nachgelesen werden: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Relevanzkriterien.

Anonymität

Während sich die Encyclopedia Britannica damit profiliert, Nobelpreisträger und anerkannte Wissenschaftler als Autoren zu beschäftigen, bleiben die AutorInnen der Wikipedia in der Regel anonym. Zwar besitzt die Mehrzahl der Autoren ein Benutzerkonto, dieses sagt aber nichts über die wahre Identität eines Wikipedianers aus, da die meisten Autoren unter der Verwendung von Pseudonymen aktiv sind (vgl. Weinberger 2008, 163).
“Uns geht es um eine Pseudoidentität, nicht um wahre Identität. Dass ein bestimmter Benutzer eine unveränderliche Pseudoidentität hat, erlaubt es uns, seine Qualität zu beurteilen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wer er wirklich ist.”
(Jimmy Wales, zitiert nach Weinberger 2008, 163)
Der Wunsch von Autoren, Pseudonyme zu verwenden, muss unbedingt respektiert werden (vgl. Van Dijk 2010, 31) und ist besonders bedeutsam, wenn es um die Mitwirkung bei “heiklen” Themen geht, die bei Offenlegung der Person der Autorin vermutlich erst gar nicht entstehen würden. Ausgesetzt wird dieser Grundsatz nur in Ausnahmen, z.B. bei Straftaten (u.a. Volksverhetzung, Urheberrechtsverletzungen, Verrat von Betriebsgeheimnissen). In einem solchen Fall arbeitet die Wikipedia mit der Polizei zusammen. Grundlage ist das Rechtssystem der USA und das Recht des jeweiligen Herkunftslands (vgl. ebd., 23).

Freiwilligkeit

Ein wichtiger Aspekt der Philosophie von Wikipedia ist das Prinzip der Freiwilligkeit. Tausende AutorInnen, LektorInnen und KorrekturleserInnen stellen ihre Zeit, das Produkt ihrer Arbeit und vor allem ihren Fleiß zur Verfügung, um das Ziel der Community in die Wirklichkeit umzusetzen: die Erstellung einer qualitativ hochwertigen Enzyklopädie in der jeweiligen Muttersprache über alle Kulturen und Nationen verteilt (vgl. Tapscott; Williams 2009, 71). Die Beweggründe für die immense Unterstützung, die das Projekt erfährt, werden später thematisiert.

Administratoren

Obwohl die Wikipedia auf das klassische Wissenskonzept des “Expertentums” verzichtet und das Kollektiv die Inhalte der Enzyklopädie generiert, gibt es ein Minimum an Hierarchie in der scheinbar hierarchielosen Wikipedia: Nicht alle Wikipedianer haben diesselben Rechte. So gibt es gewählte Administratoren, die bei “Edit-Wars” Artikel vorübergehend einfrieren können, bei Regelverstößen Artikel löschen oder AutorInnen gegebenenfalls sogar sperren (vgl. Van Dijk 2010, 28). Teilweise sind diese zusätzlichen Rechte und Funktionen, aber auch Pflichten, mit Wahlämtern verbunden, sie können aber auch durch persönliche Leistung (Reputation) erworben werden und sich so im Laufe der Zeit aufbauen (vgl. ebd., 31f.).

Neben Regelsetzungen ist es folglich auch zu einer Hierarchisierung gekommen (vgl. ebd., 28). Doch ohne diese Hierarchisierung hätte sich Wikipedia nicht in diesem Maße entwickeln können, letztlich würde sie nicht funktionieren: ”[Wikipedia] ist eine pragmatische utopische Gemeinschaft, die mit einem Minimum an Struktur beginnt, aus dem sich dann nach Bedarf soziale Strukturen entwickeln” (Weinberger 2008, 167). Inmitten des scheinbaren Chaos gibt es einen kleinen Kern, eine überschaubare Anzahl regelmäßiger User, die sich engagiert dem Projekt widmen (vgl. Tapscott; Williams 2009, 73). Letztendlich bewahrt diese Gruppe das Produkt der Gemeinschaft, was auch bedeutet, dass man am Kern der Sache vorbeigeht, wenn man die Online-Enzyklopädie als die kumulierte Arbeit von Einzelpersonen betrachtet (vgl. Weinberger 2008, 166). Genau diese Verkennung der entscheidenden Variable - der Community - trifft man aber häufig an (“Wie soll das gehen: ein Lexikon, wo jeder reinschreiben kann, was er will!”...).

Aktives Lesen

Fast eine Revolution geht mit dem “Lesen” eines Artikels der Wikipedia einher. Denn woher bezieht Wikipedia Autorität, durch was gewinnt sie das Vertrauen der LeserInnen? Der Enzyclopedia Britannica bringen die LeserInnen (zu Recht) Vertrauen entgegen, was es ermöglicht, den Artikeln ohne weitere Prüfung zu vertrauen und das Wissen passiv aufzunehmen (vgl. ebd., 171). Das stellt sich im Fall von Wikipedia grundlegend anders dar.

Jeder Artikel in der Wikipedia stellt kein fertiges Produkt dar, das von Experten gefiltert und gefertigt wurde, sondern der Entstehungsprozess ist klar ersichtlich: “Metadaten” wie Bearbeitungen, Diskussionen oder Hinweise werden zusätzlich geliefert (ebd.). Und gerade das erfordert auf Seiten des Lesers eben keine Passivität, sondern eine aktive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand “Wissen”. Die Wikipedia leitet also ihre Glaubwürdigkeit “daraus her, dass man uns unfehlbare Wesen in die Lage versetzt, die Unterschiede zu erforschen - und zwar gemeinsam” (ebd., 172).

Festgehalten werden kann, dass die Inhalte durch ständigen Austausch und stetige qualitative Verbesserung zu keinem Zeitpunkt als “fertig” bezeichnet werden können, sondern sich prozessartig weiterentwickeln. In öffentlicher Diskussion werden Artikel verändert und ergänzt, ganz dem Prinzip der Agora folgend (vgl. Münker 2010, 101f.). Auch das Regelwerk der Wikipedia entwickelt sich weiter und passt sich den Gegebenheiten und Notwendigkeiten der Arbeit an.

Regeländerungen

Ursprünglich war die Intention der Wikipedia, dass tatsächlich jede und jeder Artikel einstellen, editieren, verbessern und erweitern kann - ohne Einschränkungen oder Hürden. Doch schnell wurde deutlich, dass diese Idee nicht umgesetzt werden kann, vor allem unter dem Aspekt des Qualitätsanspruchs an die Artikel (vgl. Wikipedia: Gesichtete Versionen 2012).

Der häufig als Vorwurf formulierten Feststellung, dass bei der Online-Enzyklopädie jeder (sprich: jeder Idiot) einen Artikel einstellen, verändern und ergänzen könne, kann also entgegnet werden: Mittlerweile gibt es sehr wohl einige Richtlinien und Regeländerungen für AutorInnen. Im obigen Kapitel wurden diese bereits aufgeführt. Doch sind sie eher als Ergänzungen der Grundprinzipien zu verstehen, die sich aus der täglichen Nutzung ergeben haben.

Um “schädliches Verhalten” und “das absichtliche Verschlechtern” von Artikeln (Vandalismus) zu verhindern, hat die deutschsprachige Wikipedia ein neues Instrument zur Reglementierung eingeführt: die Sichtung (Van Dijk 2010, 74). So erhalten Neuerungen und Veränderungen durch Neulinge zunächst den Status “ungesichtet”. Dabei spielt es keine Rolle, ob der User ein Benutzerkonto hat oder als anonymer User (die man im Wikipedia-Jargon “IP-ler” nennt) Bearbeitungen vornimmt. Erst wenn ein registrierter, regelmäßiger Autor (ein “Sichter”) diese Änderungen für regelkonform befindet, erlangen sie den Status “gesichtet” und werden schließlich für den Leser des Artikels sichtbar (vgl. ebd.).

Die Intention dieses Systems ist es, dem Leser eine “gewisse Grundqualität” zu garantieren. Dieser Review-Prozess sagt jedoch nichts über die fachliche Kompetenz des Inhaltes aus. Der Status gibt lediglich eine Art Zertifikat, dass die erneuerte Version eines Artikels frei von “offensichtlichem Vandalismus” ist (Wikipedia: Gesichtete Versionen 2012).

Neben dieser Einschränkung für “Neu-Autoren” gelten selbstverständlich für Autorinnen und Autoren - ob erfahren oder unerfahren - die oben aufgeführten Grundprinzipien und Regeln des “Miteinanders”, die keineswegs als abgeschlossen verstanden werden können.

Wikifizieren

Im Lauf der Zeit hat sich eine typische Art und Weise entwickelt, wie ein Artikel strukturiert und aufgebaut ist. Dieser Prozess des “Wikifizierens” gehört mittlerweile zu den ungeschriebenen Gesetzen und Richtlinien für das Schreiben eines Artikels. Das Wikifizieren passt sowohl das äußere Erscheinungsbild (u.a. Layout, Aufbau des Artikels) als auch die inhaltlichen Ansprüche (u.a. “NPOV”, Literaturrecherche) den Anforderungen der Enzyklopädie an (vgl. Van Dijk 2010, 97).

Belege

Eine Änderung hat sich auch bezüglich der Belege vollzogen. War es zu Beginn des Projekts nicht zwingend notwendig, neben Verweisen zu anderen Wikipedia-Artikeln Belege aus der wissenschaftlichen Literatur zu suchen, ist diese “unwissenschaftliche” Vorgehensweise heute undenkbar. Basiert ein Artikel nicht auf einem Mindestmaß an Hintergrundrecherche - und dies bedeutet, dass Literatur oder Onlinequellen angegeben werden - kann der Artikel gelöscht werden (vgl. ebd., 121).

Erst seit 2006/2007 gehört die Notwendigkeit von Belegen als Selbstverständlichkeit dazu. Für eine Auszeichnung als “lesenswerter” oder “exzellenter” Artikel reicht ein Minimum an ein bis zwei Belegen nicht aus; hierfür wird eine umfassende Recherche und Verweise auf Literatur vorausgesetzt (ebd.).

Wie sich an diesen Ausführungen zeigt, ist die “Wikipedia - die freie Enzyklopädie” keinesfalls mehr so frei, wie es der Name suggeriert. Die Arbeit mit und in ihr ist reglementiert, um die Qualität der Artikel sicherzustellen und damit das Ziel der Community zu verwirklichen: Eine “Enzyklopädie von Weltklasse” zu erschaffen, deren Inhalte frei zugänglich sind (Weinberger 2008, 166).

Fortsetzung: Wikipedia Teil IV: Erfolgsfaktoren und Wikipedianer

Literatur

Clay Shirky (2008), Here Comes Everybody. The Power of Organizing Without Organizations, Penguin, S. 109-142: “Personal Motivation Meets Collaborative Production”.

David Weinberger (2008), Das Ende der Schublade. Die Macht der neuen digitalen Unordnung, Hanser, S. 160-176: „Anonyme Verfasser“.

Stefan Münker (2009), Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0, Suhrkamp, S. 95-102: „Kollektives Wissen und der Erfolg von Wikipedia“.

Don Tapscott/Anthony D. Williams (2007), Wikinomics. Die Revolution im Netz, Hanser, S. 71-76: „Die Enzyklopädie, an der jeder mitschreiben kann“.

Will Richardson (2011), Wikis, Blogs und Podcasts. Neue und nützliche Werzeuge für den Unterricht, Tibia Press, S. 95-116: „Wikis. Gemeinschaftsarbeit leicht gemacht“.

Anja Ebersbach/Markus Glaser/Richard Heigl (20112), Social Web, UVK, S. 39-60: „Wikis“.

Daniela Pscheida (2010), Das Wikipedia-Universum. Wie das Internet unsere Wissenskultur verändert, Transcript Verlag.

Ziko Van Dijk (2010), Wikipedia. Wie Sie zur freien Enzyklopädie beitragen, Open Source Press.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen